Am 2. September 2023 öffnete die jährliche Tagung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. ihre Türen und bot eine einzigartige Gelegenheit für Eltern, pädagogische, therapeutische und medizinische Fachkräfte, sich über den selektiven Mutismus bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu informieren. Ein Tag voller Erkenntnisse und Austausch – Verpassen Sie nicht die nächste Tagung, um Ihren Horizont zu erweitern und diejenigen zu unterstützen, die von selektivem Mutismus betroffen sind.
von Sabine Kuke - Rehaklinik Werscherberg
Am 2. September 2023 fand die jährliche Tagung der Mutismus Selbsthilfe Deutschland e.V. statt. Der Verein kooperierte diesmal mit dem Zentrum für Entwicklung und Lernen (ZEL) Heidelberg, dessen multiprofessionelles Team um Dr. Anke Buschmann Diagnostik, Therapie und Fortbildungen zu Entwicklungs-, Sprach- und Lernstörungen anbietet. Ein Schwerpunkt des ZEL liegt auf der Elternarbeit; auf der Tagung wurde das „Heidelberger Elterntraining Selektiver Mutismus“ vorgestellt. Insgesamt 3 Vorträge und 3 Workshops waren für die Tagungsteilnehmer vorbereitet worden; das aktuelle und relevante Informationsangebot rund um den selektiven Mutismus bei Kindern und Jugendlichen wurde von Eltern, pädagogischen, therapeutischen und medizinischen Fachkräften genutzt. Als Tagungsmoderatoren fungierten Dr. Anke Buschmann vom ZEL Heidelberg und der Vereins-Vorsitzende Michael Lange.
Die Vortragsreihe eröffnete Anja Riebel. Die psychologische Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Verhaltenstherapie versuchte die beim selektiven Mutismus häufig zentrale Frage: „Wie ist das mit der Angst?“ aus wissenschaftlicher Sicht zu beantworten. Sie begann mit der aktuellen Klassifikation und Definition des Selektiven Mutismus innerhalb der DSM-V und ICD-11 als eigenständige Angsterkrankung, die in Kindheit und Jugend ihren Anfang nimmt. Anschließend beleuchtete Frau Riebel die Rolle und den Sinn von Angst in ihren verschiedenen Facetten und Funktionen im Leben/ beim Überleben: Angst kann zu sinnvollen Entscheidungen führen, die Hilfe und Schutz bringen können; sinnvolle Entscheidungen können auch Kampf, Flucht oder Ausharren bedeuten. Angst bedingt vor allem auch Lernen – Lernprozesse in positiver, aber eben auch in negativer Hinsicht werden angestoßen. Die Verhaltenstherapeutin Riebel stellte wichtige Vorgänge beim Lernen dar: Klassische Konditionierung, operante Konditionierung, Imitationslernen.
Immer gilt: je stärker die Angst, umso schneller wird gelernt. Im mutismusspezifischen Teufelskreis der Angst führen die Befürchtung negativer Bewertungen, insbesondere der Sprache, sowie Misstrauen gegenüber fast allen Menschen des Umfeldes zum Erlernen und Verfestigen des Selektiven Schweigens. Hier stellt die Angst keine Hilfe dar, sondern sie bewirkt einen negativen Lernprozess, der zu einem hemmenden und beeinträchtigenden Verhalten bei den betroffenen Patienten führt. Die gute Nachricht aus Studien zu wirksamen Methoden der Verhaltenstherapie: Gelerntes kann auch wieder verlernt werden – Schritt für Schritt über wiederum operante Konditionierung mit positiver Verstärkung des erwünschten Verhaltens. Im Falle des selektiven Mutismus ist ein normales verbales Kommunikationsverhalten das erwünschte Verhalten. Wichtiges Element in allen Therapien mit verhaltenstherapeutischem Ansatz: Die Einbeziehung von Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen. Negativen Einfluss auf den Behandlungserfolg haben ein höheres Alter der Patienten und die Schwere der jeweiligen Erkrankung. Diesen wichtigen und belegten Erkenntnissen zur Entstehung und Behandlung von Angsterkrankungen ließ die Referentin spezifische Forschungsergebnisse zum Selektiven Mutismus folgen.
Demnach lassen sich über zufällige Schwierigkeiten der Eltern im sozialen Kontakt sowie psychische Erkrankungen und problematische Verhaltensweisen der Eltern belegen. Bei den Betroffenen zeigen sich oftmals Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung mit Scham- und Unzulänglichkeitsgefühlen, mit sozialer Ängstlichkeit und Verhaltenshemmung. Auch hinsichtlich Migrationshintergrund und Selektivem Mutismus wurden Zusammenhänge gefunden. Weitere Forschungsergebnisse betreffen die Genetik, die Dauer der Erkrankung
sowie die zunehmenden negativen psychischen und sozialen Folgen bei ausbleibender Remission. Um dem entgegenzuwirken, sollten Patienten mit selektivem Mutismus möglichst früh behandelt werden.
Anja Riebel rundete ihren auch in therapeutischer Hinsicht hoch relevanten Vortrag mit den Therapiemöglichkeiten und Anlaufstellen aus Psychiatrie, Psychotherapie und Logopädie ab. SYMUT, DortMut und KoMut werden seit Jahren für die spezielle Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit selektivem Mutismus empfohlen, nicht zuletzt, weil sie auf den dargelegten verhaltenstherapeutischen Erkenntnissen und Vorgehensweisen beruhen.
Auch beim „mutig sprechen“, der deutschen PCIT-SM-Adaption von Sabine Laerum, handelt es sich um ein verhaltenstherapeutisch basiertes Vorgehen bei Kindern und Jugendlichen. Der vielsagende Titel ihres Vortrages war: „Mut heißt machen: Expositionen in der Therapie des selektiven Mutismus“.
Die Patholinguistin und Logopädin behandelt ausschließlich selektiv mutistische Kinder und Jugendliche. Davon erzählte sie im Vortrag wie in ihrem Workshop, fast plauderte sie in leichtem Ton vom sehr individuellen und kleinschrittigen Weg aus dem Schweigen hin zum Sprechen. Sabine Laerum hält, wie auch die Vertreter von SYMUT, DortMut, KoMut und des Heidelberger Elterntrainings, die Einbeziehung der Eltern für unerlässlich. Denn das selektive Schweigen muss in Alltagssituationen überwunden werden und keineswegs nur im Therapiezimmer.
Exposition bedeutet im Falle der verhaltenstherapeutisch ausgerichteten Mutismus-Therapie, in der konkreten Gesprächssituation mit der Sprechanforderung konfrontiert zu werden. Frau Laerum führt ihre Behandlungen sogar ausschließlich am „Ort des Schweigens“, also im Alltagsumfeld des jungen Patienten durch, so dass die Einbeziehung von Eltern, Erziehern, Lehrern und weiteren Bezugspersonen grundsätzlich gewährleistet ist. Ihre Vorgehensweise ist eng an PICT-SM (Parent-Child-Interaction- Therapie adapted für Selective Mutism ) des Amerikaners Steven Kurtz orientiert. Eltern, andere Bezugspersonen sowie die Therapeutin selbst verhelfen Kindern und Jugendlichen zu regelmäßigen und genau dosierten Schritten aus dem Schweigen hin zur lautsprachlichen Kommunikation im jeweils konkreten Umfeld. Gegebenenfalls wird mit sprachfreien mutigen Expositionen begonnen – da können Einhörner auf dem Kopf oder Schnuller im Mund spazieren geführt und Passanten zugeMutet werden. Frau Laerum hat auf jeder Übungsstufe deren erfolgreiche Bewältigung im Blick – Erfolg führt zu Mut und immer mehr Mut zum Einsatz der Lautsprache.
Passgenaue Anforderungsstufen mit steigendem Schwierigkeitsgrad sind dazu notwendig sowie Wiederholungen zur Automatisierung und Generalisierung. Positive Verstärkung, bei Bedarf auch in Form von Belohnungssystemen, kann ein wichtiger Bestandteil dieses verhaltenstherapeutischen Vorgehens sein. „Viel hilft viel“ bei mutmachenden lautsprachlichen Expositionen – die Sprechangst oder auch das gelernte Nichtsprechen lösen sich auf über die Gewöhnung an das Sprechen. Somit ist nachvollziehbar, warum Eltern und andere Bezugspersonen unbedingt durch Frau Laerum angeleitet und regelrecht gecoacht werden.
Viele tägliche Sprechchancen können den betroffenen Kinder und Jugendlichen nur durch die tatsächlich anwesenden Bezugspersonen eröffnet werden. Frau Laerum vermittelte ihre diesbezüglichen fundierten Kenntnisse und langjährigen Erfahrungen im Vortrag wie im Workshop nicht nur für alle Teilnehmergruppen verständlich, sondern darüber hinaus sehr lebendig und mit liebenswürdigem Humor. Den empfiehlt sie, genau wie andere erfahrene Therapeuten, auch ausdrücklich als wichtiges Therapie-Gewürz. Fazit: der Frau Laerum zuzuhören machte Spaß und zeigte Eltern wie Fachpersonen konkret auf, wie dem unfreiwilligen Schweigen mit mutigem Sprechen zu begegnen ist.
Im 3. Vortrag wurde das Heidelberger Elterntraining (HET) zur Sprachförderung bei selektivem Mutismus vorgestellt. Referentin war Brigitte Degitz vom Zentrum für Entwicklung und Lernen (ZEL) Heidelberg. Frau Degitz ist Kindheitspädagogin, Mutismus-Therapeutin nach DortMuT sowie Trainerin und Supervisorin für das HET. Das HET Selektiver Mutismus ist eine Adaption des Heidelberger Elterntrainings zur frühen Sprachförderung (Buschmann) und richtet sich an Bezugspersonen von zwei- bis sechsjährigen Kindern mit selektivem Mutismus. Es findet in Gruppen von 2 bis 5 Familien statt und umfasst 5 Sitzungen à 120 Minuten. Mit oder ohne Therapie des betroffenen Kindes erlernen Eltern Unterstützungsstrategien, die es den Kindern erleichtern sollen, ihr gehemmtes Verhalten außerhalb der Familie schrittweise zu überwinden. Voraussetzung hierfür ist es zu verstehen, warum die Kinder in sozialen Situationen schweigen. So soll der schon erwähnte Teufelskreislauf von Angst und selektivem Schweigen sich erst gar nicht verfestigen, sondern effektiv aufgebrochen werden.
Die Eltern werden im HET Selektiver Mutismus dahingehend geschult, dass und wie sie ihre Ressourcen in die Therapie bzw. Unterstützung ihres schweigenden Kindes einbringen können. Bausteine des HET Selektiver Mutismus sind:
Einer engen Zusammenarbeit von Eltern, Therapeuten und betreuenden Fachkräften in der Kita kommt beim Heidelberger Elterntraining Selektiver Mutismus wiederum eine hohe Bedeutung zu. Im HET selektiver Mutismus können Eltern Zuversicht, Gelassenheit und einen Perspektivwechsel entwickeln in dem Sinne, dass sie vor allem und wieder die Kommunikationsfreude und die Interessen ihres Kindes wahrnehmen und auf diese unterstützend reagieren können. Sorgen und Erwartungsdruck hinsichtlich des selektiven Schweigens geraten in den Hintergrund. Die Eltern sind gestärkt in ihrer emotionalen und sozialen Vorbildrolle und können diese Ressource gezielt im Umgang mit ihren Kindern und zu deren kommunikativer Entwicklungsförderung einsetzen.
Neben den 3 Fachvorträgen wurden 3 Workshops angeboten. Sabine Laerum vertiefte unter dem Titel „Fallbesprechungen“ im Wesentlichen die Feinheiten und Klippen bei den Expositionen zum schrittweisen „mutig sprechen“ im Alltag.
Im Workshop „Differenzialdiagnostik bei Verdacht auf Selektiven Mutismus“ wurde von der Logopädin Stefanie Zillig und der akademischen Sprachtherapeutin Karolin Claußen die Befunderhebung und Beratung beim Verdacht auf selektiven Mutismus am Zentrum für Entwicklung und Lernen (ZEL) Heidelberg dargestellt. Am ZEL Heidelberg wie wohl in allen spezialisierten Institutionen ergibt sich bei jungen schweigenden Patienten häufig die Notwendigkeit einer differentialdiagnostischen Abklärung, um Eltern und junge Patienten sachgerecht zu informieren und um passgenaue Therapien vorzuschlagen.
Bekannte Komorbiditäten beim Selektiven Mutismus können Angst- und Zwangserkrankungen sein, Anpassungsstörungen, Depressionen, Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten, Schizophrenie und Sprachentwicklungsstörungen (bei der ebenfalls häufigen Zweisprachigkeit handelt es sich nicht um eine Krankheit). Hinsichtlich der Symptome dieser Erkrankungen ergeben sich Schnittmengen mit dem Selektiven Mutismus. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen dagegen stellen Ausschlussdiagnosen für den selektiven Mutismus dar – hier wurden Autismus-Spektrum-und schizophrene Störungen angeführt, schwere umschriebene Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, morphologische bzw. neurologische Störungen des Sprechapparates. Der selektive Mutismus sollte auch nicht durch andere Kommunikationsstörungen wie Stottern erklärbar sein und nicht vorübergehend als Teil von Trennungsangst auftreten.
Die ZEL-Therapeutinnen beschrieben Diagnostik und Therapie als durchaus wechselseitiges Verfahren und Vorgehen. Das diagnostische Vorgehen am ZEL beinhaltet die Anamnese, verschiedene Fragebögen zum selektiven Mutismus und zu den vor allem psycho-sozialen Komorbiditäten, eine Verhaltens- und Interaktionsbeobachtung, Austausch mit pädagogischen Bezugspersonen und das Rückmeldegespräch nach – vorläufig - abgeschlossener Diagnostik mit den Eltern. An einigen Fallbeispielen wurde das differentialdiagnostische Vorgehen konkretisiert; ebenso daraus abgeleitete Vorschläge zu weiterführenden Untersuchungen, Therapie- und Beratungsempfehlungen. Die Referentinnen regten dann die Bildung von Arbeitsgruppen an, in denen die Workshopteilnehmer jeweils übereinstimmende und unterschiedliche Symptome bei selektivem Mutismus, verschiedenen Komorbiditäten und der Ausschlussdiagnose Asperger-Autismus zusammentrugen.
Der Workshop „Jugendliche und junge Erwachsene mit selektivem Mutismus – der Weg in die Selbständigkeit und den Beruf“ wurde von Jens Kramer angeboten. Der Sonderpädagoge und Sprachheilpädagoge sprach mit seinen Inhalten besonders die Eltern Jugendlicher mit selektivem Mutismus an, da sich mit dem Übergang von der Schule ins Berufsleben durchaus bis dahin noch unbekannte Hindernisse auftun können. Dazu gehört oftmals auch das eigenständige Wohnen mit der Übernahme von Verantwortung im Alltag. Die interessierten Eltern wurden informiert, wie hilfreiche Bedingungen für diese Übergänge gestaltet werden können.
Die Mutismus-Tagung 2023 fand bei allerschönstem Spätsommerwetter und in unmittelbarer Nachbarschaft des Heidelberger Zoos statt – für angereiste Familien sicher nicht uninteressant. Die Jugendherberge als unkonventioneller Tagungsort erwies sich als rundherum ideal. Die leckere und reichhaltige Beköstigung, die Tagungsräume sowie die Innenhofanlagen boten Gelegenheit, Platz und Atmosphäre, um zwischen den Vorträgen und Workshops zwanglos mit anderen Tagungsteilnehmern ins Gespräch zu kommen. Auch ein Bücher- und Materialtisch fehlte nicht.
Im angenehm überschaubaren Rahmen bereicherten nette Begegnungen zwischen ehemaligen Patientenfamilien und Therapeuten oder auch kurzfristig organisierte Treffen von Eltern Jugendlicher mit Selektivem Mutismus das offizielle Tagungsprogramm ganz individuell und spontan. Nicht zuletzt berührten, motivierten und inspirierten Beiträge ehemaliger mustistischer Menschen die Tagungsteilnehmer, am Ball zu bleiben in Therapie und Begleitung dieser besonderen Patientengruppe.